Pordenone - Filmfestival 2007

Le Giornate del Cinema Muto - Pordenone

October 6 to October 13, 2007

Reihe: Retrospektive

Die Büchse der Pandora

Regie:   Georg Wilhelm Pabst, Deutschland - 1928
Produktion: Nero-Film AG, Berlin - Produzent: Seymour Nebenzahl - Regisseur: Georg Wilhelm Pabst - Drehbuch: Ladislaus Vajda - Nach einer Vorlage von: Frank Wedekind Erdgeist / Büchse d. Pandora - Kamera: Günther Krampf - Schnitt: Joseph R. Fliesler - Architekt: Gottlieb Hesch - Kostümbild: Gottlieb Hesch - Darsteller: Krafft-Raschig Rodrigo Quast - Sig Arno Regisseur des Cabaret - Alice Roberts Anna - Franz Lederer Alva, Schöns Sohn - Fritz Kortner Dr. Peter Schön - Karl Goetz Schilgoch - Gustav Diessl Jack the Ripper - Daisy d'Ora Schöns Verlobte - Louise Brooks Lulu -
Inhaltsangabe : Dr. Schön (Fritz Kortner), ein mächtiger Zeitungsbesitzer, erliegt dem erotischen Bann des Blumenmädchens Lulu (Louise Brooks). Durch einen Skandal zur Heirat gezwungen, initiiert Schön noch in der Hochzeitsnacht ein Handgemenge mit seiner jungen Frau, in deren Verlauf sich ein Schuss löst. Schön stirbt und Lulu wird verhaftet. Schöns Sohn Alwa (Franz Lederer) und die Gräfin Geschwitz (Alice Roberts), die ihr ebenfalls verfallen sind, befreien Lulu während des Prozesses und fliehen mit ihr und ihrem proletarischen 'Mentor', Schigolch (Carl Goetz), ins Ausland. Auf der Flucht geht das Geld langsam zur Neige und Lulu muss sich schließlich in London als Prostituierte verdingen. Dort treibt gerade Jack the Ripper (Gustav Diessl) sein Unwesen - eine fatale Begegnung...
Kritiken : "Deutsche Qualitäts-Filmarbeit. Ein nicht alltägliches Einsetzen von Kapital und Künstlerschaffen. Jenseits aller Kritik muss dieser Film gewertet werden als erfreuliche Tat, als Ansporn, als Kampfansage gegenüber dem Mittelfilm-Einerlei. [...] In augenscheinlich glücklicher Zusammenarbeit mit dem Regisseur wird mit einem Minimum an Titeln ein klarer, prägnanter Bildstil 'geschrieben'. [...] Pabst hat nie die unselige deutsche Filmmode des übertriebenen langen Ausspielens mitgemacht, er huldigte nie der Theorie, dass nur da wahre Filmkunst ist, wo Langeweile dominiert. Er sorgt für Bewegung, er beherrscht die Kunst des Untermalens durch Details und Zwischenschnitte. [...] Zwei Faktoren machen den Film zu einem Kunstwerk: die geniale Kamera-Leistung von Günter Krampf und die glänzende Darstellung. Pabst holt aus einem sorgfältig zusammengestellten Ensemble Wirkungen heraus, die wahre Filmkunst sind, die in dieser Form die Bühne nicht nachzuahmen vermag. Da ist die seit Monaten vieldiskutierte Lulu der Louise Brooks. Die passivste Rolle des Films. Pabst läßt seinen Film um diese Frau spielen, läßt um sie herum Tragödien geschehen und Menschen zugrunde gehen. Sie steht da, lächelnd, in kindlicher Freude am Sinnengenuß. Zuweilen wird sie etwas unwillig, wie ein Schulmädel, dem irgend etwas schief gegangen ist. Pabst macht aus der Lulu keinen Vamp, den man hassen soll, sondern einen Frau, die nichts für ihre Wirkung auf die Männer kann. In diesem Sinne ist die Brooks eine glänzende Interpretin, und es ist wirklich schwer unter den deutschen Darstellerinnen jemand zu finden, der an ihre Stelle hätte gesetzt werden können. [...] Auch Fritz Kortner macht mit des Regisseurs Hilfe seine schwierige Rolle begreiflich. [...] Da ist dieser Schön, allmächtiger Chefredakteur, mit erstklassigen Beziehungen, ein Willensmensch, der nicht etwa blind sich seiner Leidenschaft hingibt, sondern der genau um die Gefahr weiß, der sich freimachen will und doch nicht kann, der wissend an Lulu zugrunde geht. Kortner, wohltuend zurückgehalten, bringt in seinem Zusammenspiel mit der Brooks die stärksten Effekte des Films. So die Kulissenszenen, wo er inmitten staubigen Bühnengerümpels ihrem Körper für immer erliegt. Im Formen seines Abgangs erreichen Manuskript und Regie eine Höchstleistung: Kortner küßt mit erlöschender Kraft seine Mörderin, seine letzten Hirnregungen sind das Wissen, daß sein Sohn sein Schicksal teilen wird. [...]" ("Der große Abend der Süd-Film: Der Lulu-Film". Georg Herzberg in: Film-Kurier Nr. 37, 11.2.1929) "Die dramatische Fiktion der Femme fatale mit ihrer irritierenden Mischung aus Vitalität und Passivität, Triebbefriedigung und Unschuld, Leidenschaft und Kühle ist in Louise Brooks' Verkörperung zu einer modernen Frau und gleichzeitig zu einer Ikone der Filmgeschichte geworden. Pabst hat eine besondere Begabung in der Inszenierung seiner häufig gegen die Star­Konventionen besetzten Hauptdarstellerinnen. Für die Aufnahmen mit Louise Brooks ließ er besonders weichzeichnendes Filmmaterial verwenden, um den Lichtgloriolen­Glanz, den er um ihr häufig im Halbprofil gezeigtes makelloses Gesicht legt, als Ausdruck vibrierender Erotik einzufangen. Ihr Blick scheint dem Gegenüber zu gelten, heftet sich aber nie an ihn, sondern vagabundiert. Blicke, offene und verstohlene, aktive und verschämte, sind ein zentrales Aktionselement des Films. Obwohl alle Männer Lulu begehren, und Pabst dies in Tableaus unterstreicht, in denen sie sich fast immer zwischen Männern bewegt, sind diese – das legt ihr Gestus nahe – zu losgelöster Körperlichkeit und Sexualität kaum in der Lage. Ganz im Gegensatz dazu Lulu. Sie bewegt sich trotz aller Bedrängnis locker und wird zumeist frontal oder in Seitensicht gezeigt. Wenn Pabst ihren Rücken, Nacken und ihre Schultern zeigt, sind diese unbekleidet, und Licht sowie Kamerablick modellieren erotischen Zauber. Im Blick darauf formuliert Pabst jedoch auch die Komplementäre dieses Zaubers: Obsession und Besitzanspruch." (Jürgen Kasten, in: Metzler Film Lexikon; Verlag J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar 1995)
Anmerkungen: 1894 veröffentlicht Frank Wedekind den ersten Teil seiner Lulu-Tragödie, Der Erdgeist. 1902 folgt mit Die Büchse der Pandora der zweite und letzte Teil, der nach langem Prozeß schließlich verboten wird. Erst 1913 werden beide Stücke unter dem Titel Lulu zusammengeführt. Wedekind erzählt dort die Geschichte um "das wahre Tier, das wilde, schöne Tier". Gemeint ist eine junge, unreflektierte und im Grunde unschuldige Frau, die triebhaft an ihrer eigenen Natur zugrunde geht und dabei ihr Umfeld mit ins Verderben stürzt. Bereits 1917 wird der skandalträchtige Stoff unter dem Titel Lulu von Alexander von Antalffy verfilmt, eine zweite Version folgt 1923 mit Asta Nielsen (Der Erdgeist, Regie: Leopold Jessner). Doch erst Georg Wilhelm Pabst macht aus dem umstrittenen Bühnenstoff ein Meisterwerk der Filmgeschichte. Nach der Premiere der Büchse der Pandora am 9. Februar 1929 im Gloria Palast in Berlin ist das Echo zunächst geteilt. Während manche KritikerInnen Pabst Manierismus und Oberflächlichkeit vorwerfen, erkennen andere die herausragende filmische Leistung des Regisseurs. Georg Wilhelm Pabst gilt als Regisseur der sog. Neuen Sachlichkeit. Mit dem Ausspruch "Wozu soll eine romantische Behandlung noch gut sein? Das wirkliche Leben ist ja schon romantisch, ja grausig genug." wendet er sich vom Expressionismus und vom sog. Kammerspielfilm ab, um sich einer 'realistischeren', psychologisch vertieften und (in Maßen) sozialkritischeren Kunst zu verschreiben. In Filmen wie Die Liebe der Jeanne Ney und Die freudlose Gasse löst er diesen Anspruch ein. Pabst erweist sich als Meister des Schnitts, bei dem er konsequent den Regeln des continuity editing folgt. Bei ihm wird der Schnitt geleitet durch die Bewegungen der Figuren, die er nahtlos aneinander knüpft, und durch deren begehrliche Blicke, die in einem feinen Netz alle ProtagonistInnen mitwinander verweben. Damit erreicht er eine im deutschen Film unerreichte fließende Inszenierung. Bei Pabst 'verschwindet' der einzelne Schnitt durch die Präzision seiner Setzung. Auch Die Büchse der Pandora folgt diesem Inszenierungsstil, doch der Film geht in wesentlichen Punkten über den Stil seiner Vorgänger hinaus, was seinem Regisseur, wie oben kurz beschrieben, nicht nur Lob einbrachte. Die in der zeitgenössischen Kritik bewunderte Kameraführung Günter Krampfs geht u.a. zurück auf Pabsts Faszination von Großaufnahmen. In deren Zentrum steht Louise Brooks als Lulu. Ihr kindlich weiches Gesicht mit dem zur Ikone gewordenen Bubikopf stilisiert Pabst ins Unendliche. Immer wieder unterbrechen Großaufnahmen der Brooks Pabsts ansonsten fließende Inszenierung und heben die Figur der Lulu aus Zeit und Raum in einen beinahe abstrakten Bildraum, der sich gänzlich ihrem Antlitz unterordnet. Es scheint fast so, als hielte dieses Gesicht nicht nur die Figuren des Films sondern auch ihren Regisseur gefangen. Er verleiht den Bildern der Brooks beinahe halluzinatorische Qualität und Tiefe, die weder Brooks noch Pabst jemals wieder mit anderen Partnern erreichten. Louise Brooks alias Lulu ist das visuelle und narrative Zentrum des Films. Um sie kreist sowohl das erotische Begehren von Alwa, der Geschwitz und Schön als auch das ökonomische Interesse von Schigolch, Rodrigo und Casti-Piani. Alles in der Pandora geschieht durch sie oder um sie herum und trotzdem ist sie keine Protagonistin im klassischen Sinne. Lulu agiert nicht, zur Femme fatale, zum Vamp, fehlt ihr die Intentionalität und die Bösartigkeit. Dadurch wird sie zur Projektionsfläche der Begierden ihrer Mitmenschen. Lulu ist weder gut noch böse, weder aktiv noch passiv; sie bleibt ein androgyner großherziger Freigeist, der sich nicht vereinnahmen lassen will. Diese scheinbare Teilnahmslosigkeit verführte einige KritikerInnen zu der Aussage, die Brooks könne nicht schauspielern. Ohnehin nahm man es Pabst übel, eine Amerikanerin für "unsere deutsche Lulu" engagiert zu haben. Lotte Eisner, die in Die dämonische Leinwand noch die Frage stellte "Ist sie wirklich eine große Schauspielerin oder ist sie lediglich ein blendendes Geschöpf, dessen Schönheit den Zuschauer verführt, ihr vielfältige Eigenschaften zu verleihen, denen sie im Grunde fremd bleibt?" beantwortete dies Jahre später selbst, als sie Brooks als Person beschrieb, die "durch ihre unbezweifelbaren Eigenschaften des Verstandes und des Herzens gespeist wurde: Freimütigkeit der Meinung, Klarheit in der Beobachtung von Menschen und Dingen, die Gewohnheit, sich mit völliger Aufrichtigkeit zu äußern". Brooks selbst sagte über ihre Zusammenarbeit mit Pabst: "In Hollywood war ich ein hübsches flatterhaftes Ding, dessen Charme für die Verwaltung in dem Maße abnahm, wie meine Fan-Post zunahm. In Berlin betrat ich den Bahnsteig, lernte Pabst kennen und wurde eine Schauspielerin." Diese Verwandlung führt sie auf Pabsts Einfühlungsvermögen bei der Regie seiner DarstellerInnen zurück: "Alles was ich dachte und alle seine Reaktionen schienen zwischen uns in einer Art wortloser Kommunikation ausgetauscht zu werden. Mit den anderen Leuten seiner Umgebung redete er immer und endlos auf seine aufmerksame Art und Weise, lächelnd, gespannt; und er sprach ruhig, mit einer wunderbaren zischenden Präzision. Aber mit mir sprach er manchmal den ganzen Morgen kein Wort; doch plötzlich dann beim Lunch wandte er sich an mich und sagte: 'Louiiiss, morgen früh müssen Sie auf eine große Kampfszene mit Kortner vorbereitet sein', oder: 'In der ersten Szene heute nachmittag werden Sie weinen.' So gab er mir seine Regieanweisungen. Mit einem intelligenten Schauspieler setzte er sich zu einer ausführlichen Erklärung zusammen; mit einem alten Hasen sprach er die Sprache des Theaters. Aber mich erfüllte er auf magische Weise mit einem einzigen klaren Gefühl und schickte mich dann einfach in die Arena. Und das galt auch für die Handlung. Pabst belastete meine Gedanken niemals mit Dingen, die nicht direkt mit einer Szene zu tun hatten." Louise Brooks war trotz ihrer faszinierenden Stimme keine Karriere im Tonfilm beschieden - nach eigener Aussage langweilte sie sich. Ihre Intelligenz und ihren sprühenden Wortwitz brachte sie dennoch in unzähligen Essays über Hollywood und seine Stars zu Papier. 1985 starb Louise Brooks im Alter von 79 Jahren. Zwei Jahre zuvor erschienen ihre Essays unter dem Titel Lulu in Berlin und Hollywood erstmals in deutscher Sprache. / StummFilmMusikTage Erlangen

Chicago

Regie:   Frank Urson, USA - 1927
Produktion: DeMille Pictures Corporation - Regisseur: Frank Urson - Drehbuch: Lenore J. Coffee - Nach einer Vorlage von: Maurine Dallas Watkins play - Kamera: J. Peverell Marley - Schnitt: Anne Bauchens - Architekt: Mitchell Leisen - Set Decoration: Ray Moyer - Kostümbild: Adrian - Darsteller: Julia Faye Velma - Viola Louie Two Gun Rosie - Robert Edeson William Flynn - May Robson Matron - Otto Lederer Amos' Partner - Sidney D'Albrook Photograph - T. Roy Barnes Reporter - Warner P. Richmond Asst. District Attorney - Clarence Burton Polizei Sergeant - Virginia Bradford Katie - Eugene Pallette Rodney Casley - Victor Varconi Amos Hart - Phyllis Haver Roxie Hart -
Kritiken : Chicago Schon wieder bringt uns Film-Amerika eine Ueberraschung! Man schickt uns da einen Film herüber, in dem eine süße, blonde, verheiratete Frau die Hauptrolle spielt. Sie erschießt, angeblich um ihre Ehre zu retten, einen Mann, kommt vor das Gericht und wird - freigesprochen. Das sei schon oft dagewesen? Einen Moment bitte!! Sie müssen nämlich wissen, daß der Erschossene der Liebhaber war, der die Zahlung diverser Rechnungen verweigerte und endgültig "Schluß" machen wollte. Und daß infolgedessen der Freispruch nicht der Triumph einer innerlich unschuldigen Frau ist, sondern eine raffinierte Täuschung der einfältigen Geschworenen durch den Verteidiger und die Angeklagte. Ein solcher Film ist im Lande der Frauenanbetung, die durch die vielen schmalzigen Liebesfilme noch verstärkt wurde, einfach noch nicht dagewesen. Eine schöne verheiratete Frau eine Mörderin und Dirne? Und der Schauplatz dieser Handlung nicht Paris oder London, sondern Amerika? Was werden dazu nur die Frauenvereine gesagt haben? Der Film führt zum Schluß die Handlung nicht konsequent zu Ende. Ein europäischer Dramatiker hätte wohl das Eheleben von vorn anfangen lassen, hier weist der Gatte mit pathetischer Geste der "Ruchlosen" die Tür. Sie muß auf die Straße, wo es natürlich regnet und eben die letzen Reste ihres Prozeßruhmes im Rinnstein verschwinden. Und dann gibt es auch noch ein sanftes schwarzes Mädchen, daß begründete Hoffnungen auf ein gar nicht fernes happy ending zuläßt. Aber der Film geht nicht nur gegen die Frauen vor. Er richtet sich auch gegen andere U.S.A.-Institutionen, die bisher unantastbar schienen. Zuerst einmal gegen die sogenannte "gelbe" Presse, die jeden Vorfall sofort in Auflagen umrechnet und deren Reporter wegen jedes Mordes Freudenpurzelbäume schießen. "Chicagos schönste Mörderin" wird sofort gemanagt, die Setzmaschinen tippen erfundene "interessante" Einzelheiten aus dem Leben der Berühmten, die Photographen knipsen die Heldin, als habe sie eben den Ozean überflogen. Erst wenn eine neue Sensation da ist, wird die alte plötzlich "abgeblasen". Nun - wir haben ja erst vor kurzem einen Krantz-Prozeß erlebt und erfahren, wieviel unsere deutschen Zeitungen schon von drüben "gelernt" haben. Dann kommt die Justiz an die Reihe. Im Untersuchungsgefängnis streiten sich die Mörderinnen über den gegenseitigen Ruhm und die Zahl der erschienenen Bilder, der Verteidiger inszeniert nach Erpressung eines enormen Vorschusses eine ganze Theateraufführung vor den Gerichtsschranken, die Geschworenen sind leicht zu schmeichelnde Trottel, die ein Frauenschenkel mehr interessiert als der ganze Prozeß, der Staatsanwalt schreit nach Blut, übersieht alle wesentlichen Dinge und baut seine Anklage auf schillernden Phrasen auf. Das Publikum benimmt sich wie bei einem Fußballmatch und schlägt sich zum Schluß um die Autogramme der Freigesprochenen. Manches ist wohl etwas übertrieben, aber das dürfte Absicht sein. Denn wenn man ein Volk, das die geschilderten Vorgänge in gemilderter Form ohne weiteres bisher für selbstverständlich hielt, aufrütteln will, muß man scharfe Töne anschlagen. Diese Uebertreibungen werden drüben deshalb gar nicht so stark empfunden werden. Man arbeitet auch bewußt mit Kintopp-Effekten und reißerischen Mitteln. Der Erfolg ist, daß der Film Tempo und Spannung hat. Man klagt nicht, wie die nordischen Dramatiker, die "Gesellschaft" an, beschwert den Zuschauer auch nicht mit tragischen Konflikten, sondern greift zu den Waffen des Spottes und überläßt es jedem einzelnen, über den Sinn der Geschichte zu entscheiden. Leonore J. Coffee schrieb das Manuskript nach einem gleichnamigen Bühnenstück, für die Regie zeichnet Frank Urson. Er leistet ausgezeichnete Arbeit, holt aus den Darstellern alles heraus und läßt sich keine Wirkung entgehen. Der Film ist im Grunde genommen aus derselben Mentalität heraus gemacht, wie die karikierten Zeitungsartikel. Phillis Haver, bekannt als Nuttchen aus dem "Weg allen Fleisches", hat eine Bombenrolle. Sie ist eine makellose Postkartenschönheit, ohne Seele, ohne Gefühl, die die Männer nimmt, was sie wert sind, die in Rührung macht, wenn es opportun erscheint, und wenn es zum Zahlen kommt, sich sehr freimütig selbst anbietet. Der Haver hat die Rolle sichtlich Spaß gemacht, ihre Gesten sind zuweilen von verblüffender Eindringlichkeit, sie ersetzt Titel und ganze Szenen mit einem einzigen Mäulchenmachen oder Schulterzucken. Den gehörten Ehemann, dessen goldblondes Glück sich als gelbgestrichenes Blech erweist, spielt Viktor Varconi mit nobler Haltung. Dieser Ehemann ist durchaus kein Trottel, über den man lacht und von dem man sagt, er habe sein Schicksal verdient, sondern ein schöner, kluger Mann, der im Geschäft sehr tüchtig ist und lediglich zu Haus vor logischen Konsequenzen zurückschreckt. Auch die übrigen Darsteller werden von der Regie glänzend geleitet. Die deutsche Bearbeitung von Robert Liebmann ist einwandfrei. Der Film fand sehr starken Beifall und fesselte trotz der vorgerückten Zeit restlos die Besucher. Wo man ihn geschickt herausbringt und richtig sagt, was er bezweckt, wird er auch in den Sommermonaten ein großes Geschäft sein. P.D.C.-Film im National-Verleih.» (Georg Herzberg, Film-Kurier, 10.Jg., Nr.125, 25.5.1928) "Chicago" verfilmt «Der amerikanische Bühnenschlager "Chicago", der hier in der Übersetzung Karl Vollmoellers demnächst zur Aufführung kommt, wird nunmehr verfilmt Unter der persönlichen Regie von Cecil B. de Mille wurden dieser Tage die ersten Szenen zu dem Film "Chicago" gedreht. Mit der Regie war ursprünglich Frank Urson beauftragt worden, doch hat sich später de Mille entschlossen, die Leitung der Aufnahmen selbst zu übernehmen.» (Quelle: Lichtbildbühne, 20.Jg., Nr.251, 20.10.1927) "Chicago." Eine Premiere in Hollywood. Als Regisseur für diesen Film zeichnete Frank Urson. Im wesentlichen wurde er aber von Cecil de Mille inszeniert. Von manchen Seiten wurde de Mille der Vorwurf gemacht, er habe, als der Film nicht so gut wurde, wie er es erwartet hatte, und vor allem den Vergleich mit dem bekannten Bühnendrama gleichen Namens nicht aushielt, sich nach seiner Fertigstellung hinter dem Namen eines Strohmannes versteckt. Die Unterlegung dieses Motives scheint nicht berechtigt. Urson war als Regisseur engagiert worden und blieb offiziell der Regisseur während der Herstellung. Hätte de Mille nachträglich seinen Namen auf den Film gesetzt, so wäre sicher mindestens ebenso laut protestiert worden. Nur hätte man ihm nachgesagt, er versuche sich mit fremden Lorbeeren zu schmücken. Es ist die alte Geschichte von dem Müller, seinem Sohn und dem Esel. Wo Urson aufhört und de Mille anfängt in diesem Film, wird man schwer erkennen können. An den hier hergestellten Filmen des gleichen Kalibers gemessen, ist der Film keineswegs schlecht. Das Publikum des Metropolitan-Theaters machte den Eindruck, als werde es ausgezeichnet unterhalten. Die Geschichte hat viel mit der Qualität des Films zu tun, obwohl sie beträchtlich durch die Verpflanzung von der Bühne zur Leinwand gelitten hat. Die junge Frau erschießt ihren reichen Liebhaber, als dieser, ihrer Geldforderungen satt, sich von ihr trennen will. Ihr Mann opfert sein Vermögen und bestiehlt außerdem den berühmten Anwalt, der exorbitante Honorarforderungen stellt, ihn mit dem von ihm gestohlenen Geld bezahlend, um sie vor den gesetzlichen Folgen ihrer Tat zu retten. Die Rettung gelingt, dank der für Frauenschönheit und -tränen empfänglichen Geschworenen. Zum Schluß weiste er ihr die Tür, trotzdem er sie liebt. Das ist ebensowenig überzeugend wie die Beraubung des Anwalts. Der Film ist eine leidlich gute Satire auf die Stellung der Frau in Amerika, solange er Satire bleibt. Man ist sich hier aber nicht immer über das Wesen und die Mittel der Satire klar, hat vor allem nicht das Gefühl dafür, wo die Satire aufhört und die Burleske anfängt. So enden manchen Szenen, die sich wundervoll satirisch pointieren ließen, in burlesken Verknotungen. Die Hersteller des Filmes werden allerdings unter Hinweis auf die Reaktion des Publikums, die gelungene Erzielung des Abdominallachens, welches, wie sie behaupten, den Kasseneinnahmen eines Filmes nützt, diese stilistischen Ausrutschungen verteidigen können. Ich möchte aber behaupten, daß nicht das laute Lachen im Theater zählt, das auf beinahe mechanischem Wege erzielt werden kann, wenn man z.B. jemanden einen Stoß Teller ohne irgendeinen besonderen Grund auf den Boden werfen läßt, sondern das leise Lachen, das man mit sich nach Hause nimmt. Und dieses zu erzielen, ist sicher eine große und schwere Kunst. Der Film baut sich im wesentlichen auf einem Charakter auf, dem der Frau, die von Phyllis Haver dargestellt wird. Man kann gut erkennen, was die Regie mit ihm zu tun beabsichtige, und muß mit Bedauern feststellen, daß das Beabsichtigte so vollständig gelungen ist. Die Frau ist die Personifikation der Hysterie der amerikanischen Großstadt. Den Charm des Wesens, den diese Frau neben ihren Fehlern notwendig aufweisen mußte, versucht man rein mechanisch durch Unterstreichung ihres körperlichen Charms zu ersetzen. Wie anders wurde das doch mit der gleichen Schauspielerin im "Weg allen Fleisches" gehandhabt. Victor Varconi als Ehegatte füllt seinen Platz gut aus.» (Ch., Film-Kurier, 10.Jg., Nr.74, 26.3.1928) Chicago Was die National jetzt als amerikanisches Sittendrama in neun Akten vor die Berliner Öffentlichkeit bringt, ist hier in der Reichshauptstadt an sich bereits bekannt. Es handelt sich um die Verfilmung des Schauspiels "Chicago", ein Stück, daß [!] die amerikanische Girl-Kultur, den übertriebenen Kult der Frau, geißeln und glossieren will. Diese Angelegenheit ist für uns, von ihrer politischen Seite aus gesehen, absolut unaktuell, so daß die besondere Sensation, die dieses Bild in Amerika hatte, bei uns ausblieb. Immerhin handelt es sich um ein Bild, das über dem Durchschnitt steht, sogar besser gespielt ist, als mancher andere Amerikaner und auch in der Geschichte an sich interessant wirkt. Es handelt sich dabei um eine junge Frau, die neben ihrem Mann noch einen Liebhaber hat und den Galan einfach eines Tages erschießt, als er kein Geld mehr hergeben will. Ein übergeschickter Reporter macht aus dieser kleinen Frau die schönste Mörderin Chikagos. Ein geschickter Rechtsanwalt sorgt für ihren Freispruch, allerdings nur gegen ein Honorar von fünftausend Dollar, die der Mann allerdings nur dadurch besorgen kann, daß er selbst bei dem Rechtsanwalt einbricht. Schließlich, nachdem die Mörderin freigesprochen ist, nachdem der Gatte sich mehr für sie eingesetzt hat, als das eigentlich die verliebtesten Ehemänner tun, wirft er sie aus dem Haus. Die einzelnen Szenen sind sensationell zugespitzt. Das Ganze hat zu einem Teil starke Spannung und wirkt deshalb auf das Publikum, das sicher auch das Gefühl haben wird, daß einige Partien, so zum Beispiel die Gerichtsszene, sogar Höhepunkte der modernen Filmschauspielkunst darstellen. In der männlichen Hauptrolle sieht man Victor Carconi [!], einen talentierten Ungarn, und Phillys Haver, eine Frau, die man sich merken muß, die im europäischen Sinn nicht unbedingt hübsch, aber außerordentlich pikant ist. An dem Erfolg hat der Regisseur Frank Urson Anteil, ein geschickter, routinierter Arbeiter, der vor allem auch äußere Effekte gut trifft, sowie der ausgezeichnete Photograph.» (Quelle: Kinematograph, 22.Jg., Nr.1110, 27.5.1928) Chicago (...)Das Bühnenstück Chicago, ein Reißer mit hundert Pferdekräften, eine Persiflage, die rauchende Salpetersäure auf amerikanische Rechtspflege und Presse tropft, hat im Film sozusagen eine freundliche Abschleifung erhalten. Im Bühnenwerk gibt es keinen Edelmut, keine Liebe, keine sauberen Gefühle: da gibt es ein Wettrennen um Presseruhm und Dollars - der Film dagegen wartet mit einem hingebend verliebten Mann auf, mit einem edelmütigen Dienstmädchen und setzt an den Schluß einen Ausblick in eine saubere Zukunft. Die blonde, süße, pflanzenhaft lebende Roxy Hart schießt ihren Liebhaber, der keine Dollars mehr herausrücken will, ein bißchen tot. Ihr Gatte will sich opfern: vergebens, sie kommt ins Chicagoer Frauengefängnis und wird des Mordes angeklagt. Das Gefängnis ist ein höchst seltsamer Klub etwas allzu energischer Damen, die teils zu schnell mit dem Messer waren, teils auf ein allzu frühes Kommen des Ehegatten mit einem Browning reagierten. Das wesentlichste Erregungsmoment ihres komfortablen Gefängnislebens besteht in der Angst, irgendeine andere Insassin könnte den Rekord an Zeitungsberichten über ihren "Fall" schlagen. Roxi [!] erhält den gerissensten Verteidiger, einen Meister der Regie, der allerdings etwas teuer ist und der sich für seine Forderung von 5000 Dollar Vorschuß einen kleinen Einbruch von Roxyx Mann zuzieht und nun mit seinem eigenen Geld bezahlt wird. Der Verteidiger inszeniert die Gerichtsverhandlung zu einem Drama, das mit ältesten Kulisseneffekten die Geschworenen rührt, mit Lieblichkeit, Unschuld, Reue und Moral die Zuschauer einwickelt und die freche, kleine Roxy minutenweise in einen blonden Tugendengel verwandelt. Resultat: Freispruch - die Reporter rasen - da knallt ein Schuß - eine Dame der besten Gesellschaft hat ihren Geliebten erschossen - Presse, Photo, Polizei: Roxy ist eine Sensation von gestern. Und ihr Mann hat endlich die Energie, sie hinauszuwerfen und mit einem leichten, symbolischen Bedürfnis läßt der Film abschließend das treue Dienstmädchen mit dem goldenen Herzen die ganze, von dem empörten Ehemann zusammengeschlagene Bude "aufräumen". Eine wirksame Handlung, durch knallige Filmeffekte vergröbert. Es ist gegenüber dem Bühnenstück vieles zuerfunden worden, es ist aus einer ätzenden ironischen Verulkung eine freundlich derbe Satire geworden. Der Regisseur Frank Urson, der "unter der künstlerischen Oberleitung von Cecil B. de Mille" arbeitete, hat einen einheitlichen Stil nicht gefunden. Der Film schwankt zwischen Charakterkomödie und handfestem Schwank, und Urson tut bald in dieser, bald in jener Richtung zu viel oder zu wenig. Aber das geht nur das künstlerische Urteil an: die Wirkung des Chicago-Films ist eine bemerkenswert große. Die Szene im Gerichtssaal, in der Roxy unter Leitung ihres Anwalts ihr Repertoire abwickelt, ist mit viel Feinheit gestaltet, mit viel Sinn für bildlich-satirische Wirkungen geformt. Der Regisseur entwickelt einen erheblichen Reichtum technischer Mittel, die in den darstellerischen Leistungen wesentlichste Unterstützung finden. Phyllis Haver ist nach diesem Film eine klar umrissene Figur des heutigen Film-Reportoires [!]. Sie ist die ideale Darstellerin jener amüsanten Frauen, die haltlos zwischen Liebe und Luxus schwanken, deren Moralbegriffe etwas aufgeweicht sind und die das Leben mehr aus der Perspektive des Amüsements als der Pflicht betrachten. Natürlich ist sie nicht böse: sie ist nur ein klein bißchen frivol. Sie ist auch keine Kokotte, aber das normale Leben im ehelichen Pflichtenkreise würde sie als ledern und spießig empfinden. Die Haver hat darstellerisch und optisch alle Voraussetzungen, um diesen Typ zu gestalten, ohne dämonisch oder kulissenreißerisch zu wirken. Sie gibt nur gern ein bißchen zu viel, und eine vorsichtige Hand, die ihr ab und zu einen Spiegel vorhalten würde, könnte ihr gut tun. Der Gatte ist Victor Varcony, der zu edelmütig sein muß, zu hörig dieser hübschen leichsinnigen Blondine, als daß er zu einer runden, greifbaren Gestaltung kommen könnte. Der Verteidiger ist Robert Edeson: er ist gerissen, zielbewußt, brutal: ein bißchen mehr Liebenswürdigkeit und ein wenig mehr Genießerfreude hätte ihm nichts schaden können. Photographiert wurde ausgezeichnet, insbesondere die Frauenaufnahmen sind von bemerkenswerter Weichheit und Präzision. Die gesamte äußere Aufmachung ist geschmackvoll und unaufdringlich. Das Publikum ging aufs höchste interessiert mit: ein einleitender Vortrag von Lion Feuchtwanger kam nicht recht zur Geltung. Chikago wird ein ausgezeichnetes Geschäft werden.» (R.K., Lichtbildbühne 21.Jg., Nr.126, 25.5.1928) Girl-Kultur [Fazit des Vortrags von Lion Feuchtwanger, der in der Lichtbildbühne wiedergegeben ist] (...) Dieser Film ist geschrieben vom neuen Amerika gegen das alte, von einem neuen Frauentyp gegen den alten. Wenn er schwarz-weiß malt, wenn das Dienstmädchen überedel ist, die Nutte übernuttig, wenn der Mann, der an ihr hängt, eine unwahrscheinliche geistige Schlichtheit an den Tag legt, so sind diese Schwarz-Weiß-Zeichnungen nicht nur entstanden aus billiger Freude am Effekt, sondern aus dem Willen, einem tief eingefressenen Übel mit den stärksten Mitteln beizukommen. (Quelle: Lichtbildbühne, 21.Jg., Nr. 130, 30.5.1928) The long history of "Chicago" began almost eight decades before its 2002 musical screen version. (...) Never faltering, "Chicago" is unquestionably the work of a master - but who was he? The direction is credited to Frank Urson, a former cinematographer who had capably directed a dozen films in the six years before "Chicago" (...). At the same time however there is a pervasive belief that DeMille's own contribution might have gone further than "supervision". (...) Who made Chicago matters less than the rediscovery of an outstanding work offering a ferocious view of American society and press in the 1920s.» (David Robinson, Quelle: http://www.cinetecadelfriuli.org/gcm/ed_precedenti/edizione2007/edizione2007_frameset.html)
Anmerkungen: «Die erste Verfilmung jenes Stoffes, der als Musical 2002 mit Catherine Zeta-Jones, Renée Zellweger und Richard Gere neuverfilmt wurde, ist eine unterhaltsame Komödie über amerikanisches Gerichtswesen, Sensationsjournalismus und Showbusineß. Roxie Hart erschießt einen Mann. Überrascht von dem einsetzenden Presserummel lernt sie, den Mordfall geschickt zu nutzen, um auf die Titelseiten der Boulevardpresse zu gelangen. Mit Hilfe eines gerissenen Anwalts versucht sie, vor Gericht einen Freispruch zu erwirken.» (Stummfilmtage Bonn)

A Halál után

Regie:   Alfréd Deésy, Ungarn - 1920
Regisseur: Alfréd Deésy -

I Mille

(Die Tausend), Regie:   Mario Caserini, Italien - 1912
Produktion: Società Anonima Ambrosio, Torino - Produzent: Arturo Ambrosio - Regisseur: Mario Caserini (--??--) - Alberto degli Abbati - Nach einer Vorlage von: Giuseppe Cesare Abba - Kamera: Giovanni Vitrotti - Darsteller: Maria Bay - Vitale De Stefano - Oreste Grandi - Mary Cleo Tarlarini Rosalia - Ercole Vaser - Cesare Zocchi - Alberto Capozzi -

A Pál-utcai fiúk

Regie:   Béla Balogh, Ungarn - 1924
Regisseur: Béla Balogh - Darsteller: Ernst Verebes -

Twist Olivér

(Oliver Twist), Regie:   Márton Garas, Ungarn - 1919
Produktion: Corvin Filmgyár és Filmkereskedelmi Rt. - Regisseur: Márton Garas - Nach einer Vorlage von: Charles Dickens novel - Darsteller: Jenö Törzs - Tibor Luinszky Oliver Twist - Sári Almási Nancy - Gyula Szöreghy Bill Sykes - László Z. Molnár Fagin -